Alma Rogge

Der alte Pastor Rogge

Als ich 18 Jahre alt war, sagte Wilhelm Wisser, der plattdeutsche Märchenforscher, zu mir: "Schreib doch mal ein plattdeutsches Stück. Es gibt so wenige, und DU kannst es."

Diese Aufforderung stürzte mich in tiefes Nachdenken. Ich hatte bis dahin nur erst ein paar halbwegs gute Gedichte gemacht, mich im Erzählen wenig versucht, an ein Bühnenstück überhaupt nicht gedacht. Trotzdem sagte er ganz einfach: "DU kannst es!" Dieser Satz hakte sich in mir fest. Man muß einem jungen Menschen nur viel zutrauen, und er wird etwas leisten.

In einem Bühnenstück geht es um Verwicklungen und Spannungen, die sich immer mehr verstärken und zum Schluß irgendwie auflösen müssen, so ungefähr hatte ich es in der Schule gelernt. Die Dramen von Shakespeare, Schiller, Goethe, die ich in unserm Bücherschrank zu Hause fand, hatte ich nur auf ihren Inhalt, nicht auf ihre Form hin durchstudiert. Was ich im übrigen an Befähigung für meine Aufgabe mitbrachte, waren mein Humor und ein gutes Plattdeutsch. Also ans Werk!

Das Stück konnte nur unter Bauern spielen, denn einzig diese Welt war mir wirklich vertraut. Und natürlich wollte ein junger Kerl eine Deern heiraten, die er nicht haben sollte, zum Schluß aber doch kriegte. Ich verlegte die Handlung um fünfzig Jahre zurück, ließ den Brautwerber da um die Braut anhalten, wo er eine Kuh kaufen sollte, und ließ den Kuhhandel da stattfinden, wo eigentlich um die Braut geworben werden sollte. Es gab viele komische Mißverständnisse, und am Schluß standen drei verlobte Paare auf der Bühne. Jemand sagte mir nach der Aufführung, warum die Großmutter, die alles zum Guten gewendet hatte, nicht noch ihren Mitverschwörer, den alten Brautwerber bekäme, man empfände diesbezüglich eine Lükke am Schluß des Stückes! Erst viel später erfuhr ich, daß eigentlich alles falsch war: man schreibt als junger Mensch erst mal ein blutiges Römerdrama und nicht ein Lustspiel mit lauter glücklichen Paaren und einer klugen, gütigen Großmutter.

Man denke nun nicht, daß ich mein Stück in einer abgelegenen Dachkammer beim fahlen Schein der Kerze und mit vor Frost erstarrten Fingern verfaßte, keineswegs. Ich hatte immer ein kleines blaues Fünf-Pfennig-Heft in der Tasche und schrieb, wo mir bei meiner täglichen Arbeit als Bauerntochter die Gedanken kamen: beim Fegen der Kammer, hinter den Stachelbeersträuchern am Ufer der Graft, im Pferdestall benutzte ich die Futterkiste, auf dem Weg zum Dorf ein hölzernes Heck als Schreibunterlage. Überall kamen ein paar Sätze hinzu, das Stück wuchs mir in der Tasche. Aber niemand sonst wußte davon.

Als die vier Akte fertig und mit Wilhelm Wissers Hilfe gründlich durchgearbeitet waren, rückte ich damit heraus und überlegte die Aufführung. In meinem Heimatdorf Rodenkirchen war immer gutes Laienspiel gepflegt worden, mir schien es selbstverständlich, daß da und nirgendwo anders nun auch mein Stück zuerst gespielt werden müsse. Meine Rodenkircher waren auch sofort mit heiligem Eifer dabei, es gab niemand, der nicht sofort freudig seine Mitarbeit zugesagt hätte. Die Rollen wurden sorgfältig besetzt, man lernte und probte, es wur-den alte Kleider und Jacken herausgekramt, Kulissen gemalt und Möbel herbeigeschleppt -, das ganze Dorf half mit. Für die Verfasserin verfertigte die Schneiderin Hanne Bruns eine himmelblaue Bluse mit 56 Druckknöpfen und einer Schleife seitlich am Hals.

Unvergeßlich ist mir der Augenblick, als der letzte Akt zum erstenmal geprobt wurde. Ich glaubte damals, am Schluß eines Stückes müßten sämtliche Spieler auf der Bühne stehen, um sich noch einmal den ergriffenen Zu-schauern zu zeigen. Sache des Autors, das einzurichten -, und ich richtete es ein. Wie eine Herde zusammen-getriebener Schafe standen meine zwölf Spieler auf der nicht eben großen Bühne -, ich drehte mich ab und hielt mir den Bauch vor Lachen! Aber hernach wurde eine schöne Gruppe daraus.

Der Aufführungstag kam. Stundenlang saß ich draußen auf unserm Hof und wusch Rüben ab, damit sie, schön gelb und zu einem Haufen geschichtet, im letzten Akt der Bauersfrau einen geeigneten Sitzplatz böten, auf den sie, bestürzt über die unvorher-gesehenen Verlobungen, hinsinken konnte mit dem alles in sich begreifenden Satz: "Nu slah dr doch de Bumklock in!!"

Die Zuschauer füllten am Abend nicht nur den Saal bis auf den letzten Platz, sie saßen dazu noch auf der Treppe und auf dem Musikantenboden. Die Aufführung gelang prächtig. Man freute sich nicht nur über das Stück einer Rodenkircherin, die mit ihnen lebte, sondern ebensosehr über die Spieler, die allen nah und vertraut waren. Dazu noch erkannte man in den Personen des Stückes Menschen aus der Gemeinde, die mir als Vorbild gedient hatten. Der Spieler des einen Bauern erschien sogar offensichtlich in der Maske meines Vaters, mit genau dem gleichen Vollbart. Stück und Aufführung und Zuschauer waren eine Einheit, wie man sie sich echter und vollkommener kaum verwirklicht denken kann. Professor Wilhelm Wisser hielt zum Schluß auf der Bühne eine Ansprache in Versen und setzte mir dazu einen schmalen Lorbeerkranz aufs Haupt. Ich weiß nicht mehr, was ich dabei gedacht habe.

Im Winter darauf wurde mein Stück von der Niederdeutschen Bühne im Hamburger Thalia-Theater aufgeführt. Ich meinte damals, eine Frau als Schriftstellerin erwecke kein rechtes Zutrauen und zeichnete nur als A. Rogge. Als ich dann am Schluß jung, rotbäckig und in einem weißen Kleid auf der Bühne erschien, ging eine spürbare Überraschung durch das ganze Haus, die sich am ändern Tag in allen Zeitungs-bespre-chungen wiederholte. Man hatte anscheinend einen ergrauten Schnauzbart erwartet.

Das bestätigte mir Jahre später noch eine Begegnung mit dem Mecklenburger Dichter Friedrich Griese. Als er meinen Namen hörte, sagte er: "Rogge heißen Sie -, es gab doch mal ein plattdeutsches Stück von einem Rogge, ich glaube, von einem alten Pastor. Sind Sie mit dem verwandt?"

Ich verneigte mich. "Der alte Pastor Rogge -, das bin ich!"

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aus Alma Rogge : "Seid lustig im Leben",
Carl Schünemann Verlag, Bremen 1953