Einer belauscht die Nachtigall

Wo traf ich den Mann, der die Nachtigall belauschte, und wann ? Irgendwo im Frühling - wichtig ist nur, dass es ihn gibt.

Er saß an einem Hang mit Bäumen und dichten Büschen, abseits des Weges. Er stützte die Arme lässig auf seine Knie, hielt den Kopf geneigt und lauschte. Eine Nachtigall trillerte und flötete, brach ab und begann eine neue Tonfolge.

Ich schlich möglichst geräuschlos den Hang hinauf und setzte mich zu ihm.

"Immer singt sie hier am Hang", sagte der Mann leise, als eine Pause eintrat. "In jedem Frühling singt sie hier. Seit nun bald zwanzig Jahren höre ich ihr zu."

"Aber es bleibt nicht immer dieselbe", sagte ich. Ich sagte es, weil ich seine Antwort hören wollte.

"Es ist die Nachtigall", sagte er. Alle Nachtigallen sind in dieser einen, und diese eine ist in allen."

Wir schwiegen. Die Nachtigall zwitscherte eifrig, ließ noch ein paar silberhelle Töne folgen und schien sich danach auf eine neue Melodie zu besinnen.

"Was treiben die Menschen nicht alles, und was haben sie nicht schon alles erfunden - es schwindelt einem, will man es sich ausdenken. Aber Noten für die Lieder der Nachtigall haben sie nicht. Wie sollten sie auch. Was klingt und schwingt nicht alles in ihrem Gesang: Flieder, Jasmin und wilde Rosen sind darin, der frische Wind über dem blauen Meer, Orangenhaine, Zitronenblüten und der betäubende Duft der Gardenie, dazu das Rauschen der Palmenwälder und das jähe Versinken der Sonne in der Wüste."

Die Nachtigall klagte in dunkleren, absinkenden Tönen und hörte unvermittelt auf.

"Haben Sie je darüber nachgedacht, warum die Nachtigall so bezwingend reine und betörende Töne hervorbringt?" fragte der Mann.

Ich musste gestehen, ich hatte darüber nicht nachgedacht. Ich nahm es so hin, es gehörte eben zur Nachtigall.

"Weil sie keinen Winter kennt!" sagte der Mann triumphierend. "Weil sie während unserer Winter in Afrika lebt. Sie kennt nur den Frühling, den Sommer und den frühen Herbst. Danach fliegt sie über die Rebenhügel von Burgund, die leibliche liederreiche Provence, durch die herbe Luft von Aragonien über das Atlasgebirge in die Landschaft am Kongo. Sind Sie je nach dem Kongo gereist?"

"Nein, noch nie."

"Nun also, dann wissen Sie wenig von dem, was die Nachtigall weiß - das heißt, sie weiß es nicht in ihrem kleinen Kopf, aber in ihrer Kehle weiß sie es, sie fühlt es in ihrer Brust."

Die Nachtigall setzte zu einem schmetternden Lauf von freudigen Tönen an, schaltete ein verhaltenes Föten ein und ließ es zögernd abklingen.

"Aber daran denken die Menschen nicht", begann der Mann wieder. "Sie hören immer nur sich selbst: ihre Sehnsüchte, ihre Liedlust und vielleicht auch eine kleine Tröstung, deren sie ja stets bedürfen. Denn wie sonst sollen sie leben?"

"Ja", sagte ich, "wie sonst sollen sie leben."

"Aber sie müssten nicht immer nur an sich denken, sondern einzig nur an die Nachtigall. Denn so ist es doch - alles versuchen die Menschen zu deuten, zu jedem Musikstück bringen sie eine Erklärung: Freude, Trauer, ländlicher Friede, Aufruhr, Schwermut - sie geben ihren Melodien einen Text. Und so versuchen sie auch, dem Gesang der Nachtigall mit Worten beizukommen. Aber es gelingt ihnen nicht!"

"Nach allem, was Sie mir hier gesagt haben -".

"Könnte es mir vielleicht gelingen, meine Sie? O nein, auch mir wird es nicht gelingen, und wenn ich mein Leben lang hier säße und lauschte."

Die Nachtigall schlug eine rasche Folge verzückter Triller.

"Wir sind gefangen in unserem Ich, aber dennoch gehört unsere Seele - jede Seele, auch die der Nachtigall - der Allseele an, die alles durchlebt", fuhr der Mann fort. "Und da hinein müssen wir uns versenken, uns mit ihr zu verbinden suchen. Dann fühlen wir uns auf geheimnisvolle Weise mit allem verwandt."

Er schwieg - und auch die Nachtigall legte eine Pause ein. Es war eine sehr erfüllte Pause.

"Und sehen Sie, so fühle ich mich der Seele der Nachtigall verbunden, als wäre ich ein - "

Er stockte und sah mich bittend, fast beschwörend an.

"Bruder der Nachtigall" ergänzte ich leise. Ich sah ihn dabei nicht an, sondern begann, mich den Hang hinabzuschieben.

Die Nachtigall sang in schmelzenden Lauten, beseligt stiegen ihre klaren Flötentöne an und sanken zu leiser Klage ab.

aus Alma Rogge "Die Rosenuhr", Carl Schünemann Verlag Bremen 1987